Manche Menschen stehen ständig unter Strom. Während sie eine Idee haben, kommt ihnen schon die nächste. Was sie nicht fasziniert, wird oft schnell vergessen. Ihre Aufmerksamkeitsspanne dauert mitunter nicht viel länger, als diese vier Buchstaben auszusprechen: ADHS.

Ständig neuer Input: Ein Mensch mit ADHS nimmt verschiedene äußere Reize oft gleich stark wahr und kann sie nur schwer filtern. Externe Einflüsse, aber auch eigene Gedanken unterbrechen immer wieder die Konzentration.

Als Ende 2023 die ARD-Doku „Hirschhausen und ADHS“ mit Dr. Eckart von Hirschhausen ausgestrahlt wurde, lief das E-Mail-Postfach von Dr. Tanja Richter-Schmidinger zeitweise über. „Es gab immer mal wieder solche Anstürme – je nachdem, was im Fernsehen oder auf Social Media so los war. Zeiten ohne Anmeldungen bei uns gab es nie“, sagt sie. Die Psychologin leitet an der Psychiatrischen und Psychotherapeutischen Klinik des Uniklinikums Erlangen die Sprechstunde für ADHS. Das H ergänzt das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS) noch um den Faktor Hyperaktivität und kennzeichnet damit die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung. „Während sich ADHS durch permanente Rastlosigkeit auszeichnet, vergisst man sich mit ADS sozusagen gedankenverloren auf der Couch“, so beschreibt es Tanja Richter-Schmidinger. ADHS ist eine neurobiologische Entwicklungsstörung mit genetischen Ursachen, die Männer und Frauen etwa gleich häufig betrifft. „Damit wird man geboren“, betont die Psychologin. „Es kann aber sein, dass es erst später auffällt, weil sich zum Beispiel die Lebensumstände verändert haben und sie nicht mehr so ADHS-freundlich sind. Die Annahme, dass sich ADHS ,auswächst‘, ist falsch.“

Wenn der Bürojob krank macht

Menschen mit ADHS haben oft viele Gedanken gleichzeitig und können sich schlecht auf einen konzentrieren. Sie sind leicht ablenkbar, ungeduldig und schnell gelangweilt, suchen immer wieder neue Kicks. Ihre Stimmung kann stark schwanken. Viele rauchen, neigen zu anderen Süchten oder machen Extremsport. Gleichzeitig fühlen sie sich oft von Reizen überflutet und erschöpft. „Wenn ich acht Stunden am Stück in einem Büro arbeiten muss, werde ich depressiv“, berichtet ADHS-Patient Julian Vetten. „Bei meinem ersten Job war das so. Ich hatte ständig Bauchweh und eine schlechte Stimmung.“ Als freier Journalist reiste er dann nach Israel, in die Ukraine und nach Syrien, um aus Krisengebieten zu berichten. Er veranstaltete in Berlin und Hamburg dreitägige Partys, ging ohne Seil klettern. „Bei ADHS ist der Dopaminspiegel dauerhaft zu niedrig“, weiß Julian Vetten heute. Dieser Botenstoffmangel im Gehirn führt immer wieder zu Handlungen, die Dopamin freisetzen und so stimulieren und belohnen. „Die Diagnose war deshalb erleichternd für mich.“ In der Erlanger Psychiatrie musste er viele Fragebögen ausfüllen und über sein Leben berichten, seine Schulzeugnisse wurden begutachtet und auch Angehörige gaben Einschätzungen ab. In ihrem Befund begründet Dr. Richter-Schmidinger schließlich auf viereinhalb Seiten, warum der 37-Jährige ein mittelschweres bis schweres ADHS hat. „Die Diagnose ist eine Erklärung, aber keine Entschuldigung“, betont die Psychologin. „Sie hilft, ein bestimmtes Verhalten zu verstehen. So können andere Menschen wohlwollend und unterstützend sein, vielleicht das eine oder andere kompensieren. Aber es darf nicht alles auf das ADHS geschoben werden.“

„ADHS ist ein ständiger Kampf gegen die Ablenkung. Das Zurückkommen zum Eigentlichen funktioniert oft nicht.“

Dr. Tanja Richter-Schmidinger

Abwechslung und Freiheit

„Wenn ich meinen eigenen Weg gehen kann mit meinen eigenen Mitteln, wenn ich genug Raum habe, dann ist alles okay“, beteuert Julian Vetten. „Aber die normale Arbeitswelt ist noch immer nicht sehr ADHS-freundlich. Mein Gehirn funktioniert nun mal zwischen 10 und 13 Uhr und zwischen 20 und 23 Uhr am besten. Aber sagen Sie das mal dem Chef.“ Sein neuer Arbeitgeber, eine große Kommunikationsagentur mit vielen verschiedenen Kunden, weiß von der Diagnose. Kein Filter, die Dinge einfach aussprechen – auch das ist ADHS. „In dem Fall war das wahrscheinlich sogar ein Einstellungsgrund“, glaubt Julian Vetten. Und so sitzt er während dieses Gesprächs auch in seinem Wohnmobil, irgendwo zwischen seinen beiden Wohnorten in Nordspanien und Oberfranken. Ein rollender Rückzugsort. Hier ist er selbst-bestimmt. „Das ist das Allerbeste, weil mich hier auf achteinhalb Quadratmetern nicht viel ablenkt“, erklärt er und schwenkt hinunter zu seinem Hund, der mit dem Kopf auf seinen Füßen schläft. „Ich brauche viel mehr Pausen als andere. Es hat lange gedauert, das zuzugeben. Dafür kann ich mich dann wieder für ein, zwei Stunden ganz intensiv in etwas hineindenken und ungewöhnliche Ideen produzieren. Und dann wieder schnell zum nächsten Thema wechseln.“

Dass sich Julian Vetten den psychologischen Tests von Dr. Richter-Schmidinger unterzog, hatte einen Hauptauslöser: die Geburt seines Sohnes. Denn ein Baby hält sich nicht an Pausen und gewährt keine Freiräume, wenn es hungrig ist und Zuwendung will. „Diese neue Erfahrung ist toll und gibt mir viel“, sagt Julian Vetten über das Vatersein. „Aber ich schiebe dadurch andere wichtige To-dos nach hinten – und mache sie letztlich gar nicht.“ Ob und wie ADHS behandelt wird, darüber entscheidet vor allem der persönliche Leidensdruck. Leitliniengemäß bekommen Patientinnen und Patienten zuerst umfassende Informationen über ihre psychische Besonderheit. Als Zweites stehen Medikamente, gegebenenfalls kombiniert mit einer Verhaltenstherapie, zur Verfügung. Julian Vetten hat bereits zwei Psychotherapien gemacht; jetzt möchte er ein ADHS-Medikament ausprobieren, das seinen Gehirnstoffwechsel reguliert und ihm erlaubt, länger fokussiert zu bleiben. „Vielleicht nehme ich es von Montag bis Freitag“, sagt er. „Es wäre so schön, wenn ich mich nicht ständig selbst unter Druck setzen würde. Einfach mal sechs bis acht Stunden effizient arbeiten, um danach abzuschalten und ohne Gewissensbisse voll für meine Familie da sein zu können – das wäre das Ziel.“

Text: Franziska Männel/Uniklinikum Erlangen; Fotos: Franziska Männel/Uniklinikum Erlangen, generiert mit Midjourney von Franziska Männel, Julian Vetten; zuerst erschienen in: Magazin „Gesundheit erlangen“, Frühling 2024